100 Jahre DGB tun der Sexindustrie nicht weh
Oder: Endlich wieder Bambule in der Elbstadt
Was war denn da los?
Auf der diesjährigen 1.Mai-Demonstration der DGB-Jugend in Magdeburg trugen sich am Hasselbachplatz denkwürdige Szenen zu: Ein Sprecher des örtlichen Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland e.V. (LSVD) hält einen Redebeitrag, der sich thematisch ganz dem Ausbau und der Stärkung der sogenannten “Sexarbeit” widmet.
Währenddessen erhitzen sich die Gemüter im Klassenkampfblock. Der Vortrag des LSVD wird erst durch Zwischenrufe und dann recht abrupt durch eine entschlossene Person gestört. Sie versucht des Mikrofons habhaft zu werden. Erfolglos, dank wachsamer und emsiger Uniformträger. Eine Frau kontert Ansagen durch ein Megaphon – Applaus. Parolen gegen Freier und Zuhälter und für die Befreiung der Frau werden angestimmt: https://www.youtube.com/watch?v=dT27wcQAzcg&pp=ygUoMSBtYWkgbWFnZGVidXJnIHJlZCBtZWRpYSBrb2xsZWt0aXYgMjAyMw%3D%3D. Die Veranstaltenden der DGB-Demonstration (zu denen diesjährig u.a. die Grüne Jugend, die Jusos und der StuRa der örtlichen Uni zählten [Foto vom Plakat mit allen Bündnispartnern]) liefern sich Wortgefechte mit Teilnehmenden der Demonstration. Die erzürnten Reaktionen waren für die Veranstaltenden offensichtlich nicht absehbar, als der Redebeitrag vorab vom Demo-Bündnis abgesegnet wurde. Nachzulesen, inkl. einiger Anmerkungen und Ergänzungen, die vom LSVD nachträglich hinzugefügt wurden, ist er hier: ttps://lsvd-lsa.de/blog-news/1-mai-tag-der-arbeit
Warum brachten die Ausführungen des LSVDs das Blut der klassenbewussten Teile der Demonstration so dermaßen in Wallung? Und wie sollte eine linke Kritik an den Positionen des LSVDs aussehen? Mit genau diesen Fragen wollen wir uns im Folgenden beschäftigen:
„Sexarbeit“ versus Prostitution
Bereits im ersten Absatz der veröffentlichten Rede “Sexarbeit – Selbstbestimmung statt Stigma” bekennt sich der LSVD eindeutig dazu, dass sexuelle Handlungen auf Konsens und damit auf Freiwilligkeit beruhen könnten, obwohl sie als Dienstleistung verkauft werden. Ganz im Sinne der liberalen Ideologie wird Sex als eine Ware wie jede andere betrachtet.
Dazu möchten wir folgende Überlegungen festhalten:
Im Kapitalismus ist Lohnarbeit nie freiwillig, wenn man Teil der Arbeiterklasse ist. Die Arbeiterklasse ist dazu gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um nicht zu verhungern. In einem solchen gesellschaftlichen System gleichzeitig von Freiheit und Entgeltzahlung zu sprechen, ist ein Widerspruch an sich. Und in der Prostitution wird nicht nur die Arbeitskraft verkauft, sondern der Körper selbst. Er selbst wird zur Ware.
Sex als Dienstleistung anzubieten, Sex(ualität) also von Körper und Mensch zu trennen, setzt einen hohen Grad der Entfremdung voraus. Entfremdung von der eigenen Arbeit ist die Regel in kapitalistischen Gesellschaften. In der Prostitution muss sich der Mensch dazu von den eigenen Körperfunktionen entfremden. So erst wird es möglich, dass Sex als käufliches Ding erscheint und auch so behandelt wird. Die Berichte von Personen aus der Prostitution untermauern diese Argumentation. So ist die Dissoziation, der Verlust der körperlich-psychischen Einheit, eine ihrer zentralen Erfahrungen. Dies spiegelt sich auch im verbreiteten Rauschmittelkonsum, dem Beschaffen einer neuen Identität oder dem Setzen von zeitlichen oder intimitätsbezogenen Grenzen wieder. Nur die Trennung von Körper und Psyche macht die eigene Verdinglichung erträglich.
Gleichzeitig fordern die Käufer der Ware Sex, dass der sexuelle Akt nicht als Arbeit in Erscheinung tritt. Die verkaufte Dienstleistung soll wirken wie wirkliche zwischenmenschliche Zärtlichkeit, wahre Sehnsucht, echte Lust. Denn welcher Freier will schon, dass sein Penis so teilnahmslos oder gar genervt angefasst wird, wie die Ware, die eine Kassiererin übers Band zieht? Bei der Kassiererin ist es uns herzlich egal, welche Miene sie beim Arbeiten zieht, solange sie ihre Arbeit korrekt ausführt. Bei der für Sex gekauften Frau ist da anders: Sie soll ihr ganzes Selbst mit der Dienstleistung verkaufen. Nur dann zeigt sich der Käufer befriedigt. Der Vergleich soll zeigen: „Sexarbeit“ ist keine Arbeit wie jede andere.
Im zweiten Abschnitt seiner Rede kommt der LSVD zum Schluss, Sex sei ein Grundbedürfnis.
Das heißt aber nicht nur, Prostituierte haben das Recht ihren Körper zu verkaufen. Das bedeutet auch, Menschen – meistens Männer – haben das Recht einen Körper – meistens den der Frau – für Sex zu kaufen. Das bedeutet, sie haben das Recht, ihn anzusehen, wie sie wollen, ihn zu sexualisieren, wie sie wollen und sich an ihm aufzugeilen, wann und wo sie wollen, solange sie nur dafür bezahlen. Durch diese Argumentation wird der (männlichen) sexuellen Befriedigung ein hoher Stellenwert bei der Organisation unserer Gesellschaft eingeräumt. Die in der Prostitution verkauften Menschen werden wie eine dem Manne zustehende natürliche Ressource gehandelt. Der Konsum von Frauenkörpern soll als patriarchales Recht garantiert werden. Diese Anahme eint die Verteidiger der „Sexarbeit“ mit Frauenfeinden wie Andrew Tate oder der Incel-Community.
Basierend auf der Annahme, Sex sei ein Grundbedürfnis, stellt der LSVD klar, dass Man(n), um Sex zu haben, einen Menschen für eine gewisse Zeit kaufen darf – solange dieser Mensch Sexarbeiterin und nicht Prostituierte genannt wird. Der LSVD betont, dass er „mit Sexarbeit […] ausdrücklich keine Prostitution“ meint, also nur einen kleinen Teil der Branche anspricht, deren Dienstleistungen angeblich auf Freiwilligkeit beruhen.
Der Versuch, „Sexarbeit“ von Prostitution zu trennen, ist nicht neu. Carol Leigh schuf 1978 den Begriff “sex worker”, in der Absicht Prostituierte in den USA zu entstigmatisieren. Das führte dazu, dass der Begriff der “Prostituierten” zunehmend aus dem bürgerlichen Diskurs verschwand. Anstatt die Prostitution als eine Institution der patriarchalen Gesellschaft zu sehen und diese als solche zu bekämpfen, glaubt man ganz im Sinne der idealistischen Ideologie, allein durch eine Veränderung der Sprache eine Veränderung der Wirklichkeit zu bewirken. Der Effekt der Entstigmatisierung soll sich letztendlich durch die Verwendung beschönigender und verharmlosender Begriffe für die brutale Realität der Prostitution einstellen.
Am Kampftag der Arbeiterinnen solidarisieren wir uns aber vor allem mit unseren Klassenschwestern und -geschwistern, die Sex als Ware nicht freiwillig anbieten, sondern aus Zwang oder mangels Alternativen. Der größte Teil der Menschen in der Prostitution sind Frauen. Sie sind häufig Geflüchtete, Migrantinnen oder Angehörige ethnischer Minderheiten. Viele von ihnen gehen unter sklavenähnlichen Zuständen anschaffen und können nicht ohne Weiteres aus dem Geschäft aussteigen.
Der LSVD hat hingegen entscheiden, sich zum Sprachrohr einer äußert kleinen und privilegierten Gruppe zu machen. Dass dies nicht offengelegt wird und die Realität der Mehrheit der Prostituierten keine Rolle spielt, ist eine Sache. Entscheidender ist aber, dass diese Sichtweise vor allem denen nützt, die von der sexuellen Ausbeutung profitieren. Denn der LSVD legitimiert diese als eine Arbeit wie jede andere. Gemäß dieser Argumentation kann dann auch der Zuhälter ein Arbeitgeber wie jeder andere sein, die Prostitution ein zumutbares Jobangebot der Arbeitsagentur und der nicht erreichte Orgasmus des Freiers ein Grund für eine Schadensersatzforderung sein.
Es ist deshalb keineswegs solidarisch mit den Ausgebeuteten, Prostitution als „Sexarbeit“ zu vermarkten.
Der LSVD fragt sich nicht, wie die sexuellen Bedürfnisse eines jeden Menschen konsensuell befriedigt werden könnten, z.B. durch die Schaffung einer Gesellschaft, in der Konkurrenzdenken, Leistungsdruck, Sexismus oder Behindertenfeindlichkeit konsequent bekämpft werden. Man will lediglich Bedingungen dafür schaffen, dass die Ausbeutung derjenigen, die sich (freiwillig) für die „Sexarbeit“ hergeben, in geregelten Bahnen abläuft.
Wer in der Abschaffung der Prostitution keine Notwendigkeit sieht, erklärt sie gleichzeitig zu einer Konstante jeder Form des menschlichen Zusammenlebens. Wer in der Abschaffung der Prostitution keine Notwendigkeit sieht, will die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht beenden. Die Verteidigung der „Sexarbeit“ ist somit auch als antikommunistische Propaganda zu verstehen. Im Kommunismus sind alle Formen von Ausbeutung und Unterdrückung abgeschafft. Daher wird es in der klassenlosen Gesellschaft auch keine Prostitution oder „Sexarbeit“ mehr geben.
Für echte Befreiung, gegen Ausbeutung in schönen Worten
Schaut man sich die Stellungnahme des LSVD an, stellt man schnell fest, dass diese mit nicht einem einzigen Wort die Rolle der Profiteure und die Abhängigkeiten der Menschen in der Prostitution erwähnt. Diese Leerstelle zeigt sich auch in den Forderungen des Verbandes: Es fehlen die Forderungen nach einer Kriminalisierung der Freier und der Zuhälter und nach Finanzierung von Ausstiegsprogrammen für Prostituierte.
Solange wir unser Leben im Kapitalismus bestreiten und solange Deutschland das „Bordell Europas“ ist, müssen wir unseren Fokus auf die Profiteure der Prostitution und deren gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen lenken. Wenn Menschen zur sexuellen Befriedigung gekauft werden können, betrifft dies nicht nur die einzelne Prostituierte, sondern alle Frauen und vom Patriarchat unterdrückte Personen. Wie soll unter diesen Bedingungen sexueller Konsens gelernt werden? Wie sollen sexistische Rollenbilder überwunden werden? Wie soll hier Gewalt an Frauen bekämpft werden?
Der LSVD bleibt ein bürgerlicher Vertreter, der im Sinne der herrschenden Verhältnisse und im Interesse der herrschenden Klasse agiert. Wir verweisen dabei auf den Begriff der Arbeiteraristokratie nach Marx und Engels. Die Arbeiteraristokratie bezeichnet durch spezifische ökonomische, soziale und politische Kriterien besser gestellte Teile der Arbeiterklasse. Der ökonomische und politische Hintergrund ihrer Besserstellung kann unterschiedlich sein. Engels beschrieb als besser gestellte Arbeiter beispielsweise Gewerkschaftsfunktionäre. Und auch der LSVD spielt seine Rolle im Apparat der Arbeiteraristokratie und reicht damit dem Kapital die Hand. Das beweist der LSVD deutlich, wenn er z.B. für „queeren Aktivismus bei der Polizei” wirbt. Die Polizei ist eine Institution, die immer wieder durch Repressionen, Gewalt und Mord verdeutlicht, dass sie existiert, um die Arbeiterklasse zu unterdrücken und zu kontrollieren. Lobbyverbände müssen immer als das gesehen werden, was sie sind: Politische Gegner, die versuchen einen faulen Kompromiss zwischen den Klasseninteressen zu schaffen.
Gerade am 1. Mai, dem Kampftag der Arbeiterklasse, muss es unsere erste kämpferische Pflicht sein, denen eine Stimme zu geben, die am stärksten unter den kapitalistischen Verhältnissen leiden. Nur so drücken wir unsere wahre Solidarität mit denen aus, denen nicht einmal mehr ihr Körper selbst gehört. Eine Befreiung von der Fessel der Prostitution kann sich erst in einer sozialistischen Gesellschaft einstellen, für die wir kämpfen, jeden Tag und besonders am 1. Mai.
Frauenkampftag.SFO lädt alle Interessierten ein, mit uns in den Austausch zu treten. Dazu werden wir in den kommenden Wochen den Prostitutionskritischen Sommer ausrufen und mehrere Veranstaltungen ankündigen. Wir hoffen auf Diskussionen, in denen die kapitalistischen Zustände nicht als Normalität gedacht werden.